Schnell schmilzt das Eis
Wer Grönland einmal bereist hat, den lässt es nicht mehr los. Im Sommer 2024 werde ich wieder auf der größten Insel der Erde sein. Blauland müsste sie – von oben betrachtet – heißen. Oder „Kassoq“ auf Grönländisch: „Blau schimmerndes Eis“.
Ich liebe das arktische Licht, das die Sinne schärft und neue Sichtweisen ermöglicht. John Davis bezeichnete schon 1595 das Arktislicht als größte Würde auf Erden. Gleichmäßig helles Licht in klarer Luft. Ein Licht, das sich in den Gesichtern seiner Bewohner widerspiegelt und den Reichtum menschlicher Beziehungen offenbart. Ein Licht mit feinen Nuancen als Atempause. Ich bin süchtig danach, weil es glasklar in der Nacht in mein Gesicht scheint. Krasser Widerspruch zu allen bislang erfahrenen Wahrnehmungen: Arktisches Licht regt zum Verzahnen von Traumfäden an. Vermittelt Raum und Leere – im positiven Sinne. Macht geduldig ohne besitzen oder kontrollieren zu wollen. Das grüne Polarlicht stimmt auf Spirituelles ein. Nuannaaqaanga – sich im Tiefsten glücklich fühlen – sagen die Grönländer.
Aber bald heißt Grönland wahrscheinlich Braunland. Denn der Insel geht es an den Kragen. Viermal so stark wie im globalen Mittel erwärmt sich die Arktis; 2021 übertraf der Regen- den Schneefall. Schmelzende Gletscher, dünnes Meereis. Schlittenhunde im Tauwasser. „Nanoq“, der Eisbär, verliert den Lebensraum. Um sieben Meter steigt der Meeresspiegel, wenn Grönlands Eispanzer schmilzt.
Der Gletscher Sermeq Kujalleq fließt 40 Meter am Tag, verliert 40 Mrd.Tonnen Eis pro Jahr, verursacht Tsunamis. Bedrohliches auch in Kangerlussuaq: Dort besteige ich das größte Inlandeis der Nordhalbkugel. 1,8 Millionen Quadratkilometer Schutzpanzer und Süßwasserspeicher. Früher drei Kilometer dick, heute Sturzflut: Brennbarer Schlamm kommt nach oben. Siku Kisimi – das Eis entscheidet, sagen die Inuits.
Und was passiert, wenn nichts mehr nachkommt?
In Grönland erlebe ich jedes Mal, wie verletztlich unser Planet ist. Bekomme Zweifel an der Always-Busy-Welt, dem Verklären von Stress und Konsum. Wir haben alles, was sich mit Händen greifen lässt, ohne mit der Natur verbunden zu sein.
Unser Leben wirkt vor der gewaltigen Arktis-Natur wie Käfighaltung mit Urlaubsflucht. Unser materieller Status und seine Symbolik sind erschöpft. Genügsamkeit ist angesagt.
(Bild: © Edda Pulst, Grönland 2023)
Edda Pulst widmet sich als Professorin für Digitalisierung leidenschaftlich der Berufsfähigkeit ihrer Studenten. Hier erzählt sie mit großer Offenheit und Humor von dem, was sie antreibt und bewegt. Sie nimmt den Leser mit in ihre Wissenswelt.