Online-Lehre in der Pandemie – eine Uraufführung
Corona hat zu radikalen Veränderungen in der Arbeitswelt geführt. Quasi über Nacht funktioniert das Home-Office in den Firmen. Allein beim a2J-Praxispartner SMSgroup arbeiten auf einen Schlag 3.000 Mitarbeiter online von zu Hause aus.
Fast zeitgleich erfolgt die Corona-Verordnung für Hochschulen: Professoren und Studenten müssen von einem Tag auf den anderen online lehren und lernen.
Bühne geschlossen
Die große Theaterbühne „Hörsaal 1“ an meiner Heimathochschule bleibt dicht, ebenso die kleinen Seminar- und Labor-Bühnen. Auch die German Jordanian University, bei der a2J im Einsatz ist, braucht Elektronisches. Jordanien ist bis auf weiteres nicht bereisbar.
All die Orte der persönlichen Begegnung und Interaktion, an denen sich Inhalte wunderbar darstellen und diskutieren lassen – der persönliche Austausch zwischen Student, Professor und Firmenmanager, die Dynamik, das Knistern, das Kribbeln, das Leben – auf einmal weg.
Forschung zum Thema „E-Learning“ betreibe ich seit Jahrzehnten, jedoch: meine Zweifel lassen sich jetzt vor dem Sprung ins virtuelle Wasser nicht wegwischen.
Moodle, das Content-Management System, würde es Spielräume für Anwendungs- und Erfahrungslernen lassen? Von Zoom rät mir der Praxispartner DHL sofort wegen Sicherheitslücken und Datenweitergabe ab. Jordanische Kollegen berichten von guten Erfahrungen mit Cisco Webex. Microsoft Teams und Skype, darauf schwören die Praxispartner Henkel und SMSgroup.
Bühnentechnik
Noch einen winzigen Augenblick jammere ich meiner alten Bühnentechnik im Hörsaal hinterher, den Tafeln, Whiteboards, dem Beamer, … dem vielen Platz auf der Bühne, der es ermöglicht, Studierende nach vorne zu holen, sie in Rollenspiele einzubinden und in Situationen aus der Praxis zu verwickeln.
Aber: Altes loslassen, das gilt auch für die Professorin.
Genau im Hier und Jetzt es aufregend finden, Digitalisierung digital zu vermitteln.
Zum Glück war mein homeoffice auf dem Land kurz zuvor in den Genuss einer stabilen Mobilfunk-Übertragungsrate gekommen.
Klar war, dass ich keinesfalls Vorlesungen aufzeichne und sie über meinen Youtube-Kanal anbiete.
Reiten lernt man schließlich auch nicht, wenn man den Reitlehrer in einem Film anschaut.
Interaktion und Kontakt – lautet die Forderung für das Online-Format, irgendwie Firmenpraxis in den Hörsaal bringen, Mitmach-Möglichkeiten, Erfahrungsformate schaffen.
Meine neue Bühnentechnik wurde Moodle, das etablierte E-Learning System, dazu eine kompetente wissenschaftliche Mitarbeiterin – und das neue Online-Format ist gesichert.
„Aktuelle Trends der Digitalisierung“, „Präsentationstraining“ und „Wirtschaftsinformatik für Betriebswirte“ gilt es, virtuell an Frau und Mann zu bringen.
Für die Studenten baue ich wöchentliche Arbeitspakete mit aktuellem Material, Anwendungsfilmen, Videobeiträgen unserer adapt2Job-Firmen, mit Vorstands-Mitteilungen und Erfahrungen aus der Wirtschaft zu veränderten Wertschöpfungsketten in der Corona-Pandemie.
Es soll kein verlorenes, sondern ein unvergessliches, ein gutes, vor allen Dingen ein lehrreiches Semester werden
Feste Einreichtermine pro Woche verlangen konkrete Fachfragen der Studierenden zum Arbeitspaket, die Artikel geben Möglichkeit zum Rollenspiel. Ist alles fristgerecht eingereicht, steht dem individuellen 2er-Fachgespräch mit der Professorin nichts mehr im Weg.
Dachte ich anfänglich, dass mein Ruf der sehr strengen Professorin mit den hohen Praxisanforderungen zu nur wenigen, zögerlichen Gesprächsanfragen führt, wurde ich schnell eines Besseren belehrt und mit Terminanfragen überschüttet.
Meine Erklärung: Die strenge Professorin ist zwar ganz weit weg, aber virtuell nah, so dass Student sie alles, wirklich alles, zu fragen traut.
Die neue Art virtueller Lehre dauert bisweilen bis tief in die Nacht, bis auch wirklich die letzte Frage beantwortet ist.
In der Künstlergarderobe
Unsere Fachgespräche fanden gewissermaßen in den Künstlergarderoben statt: Die Studentenzimmer, ich kenne sie alle, die Handtaschen der Studentinnen, die Cremes, die Schränke im Elternhaus.
Mir sind Kellerräume bekannt, das Segelboot im Regal vertraut, die Mangas über dem Bett fast sympathisch, erzählen sie doch so viel über meine Zielgruppe.
Umgekehrt haben sich die Studenten an ein übervolles Bücherregal, den klingelnden Postboten oder Geräusche des Rasenmähers gewöhnt.
Das schafft Verständnis, Vertrauen, Zutrauen und den Mut, das zu fragen, was man in Hörsaal 1 unterdrückt hätte. Dort schauen viele, am Bildschirm begegnen sich nur vier Augen.
Die Studierenden schätzen den wöchentlichen Austausch „ alle fachlichen Fragen zum wöchentlichen Arbeitspaket werden mit viel Fachwissen und Praxiserfahrung beantwortet“. Sie verstehen, dass sie so auf den späteren Berufsalltag vorbereitet sind, fühlen sich persönlich wertgeschätzt.
Mit der individuellen Betreuung können sie sich „besser auf die Inhalte der Vorlesungen einlassen und ungestört Themenfelder im Gesamten betrachten ohne abgelenkt zu werden“.
Entgegen meiner anfänglichen Skepsis mögen die Studierenden ausnahmslos das Format und bringen in den Einzelgesprächen und Rollenspielen Höchstleistungen und viel Selbstdisziplin auf.
Denn mit Freiheit und Freizeit hat Online-Lehre nichts zu tun, sogar auf Reisen von Liechtenstein und Mecklenburg-Vorpommern schalten sich die Studierenden in die Skype-Gespräche mit ihrer Professorin. Dass dieses Corona-Semester für sie ein Alleinstellungsmerkmal ist, erfahren sie, als sie ihr Semesterwissen zu Digitalisierung virtuell diskutieren können, und zwar mit Jochen Rensmann, dem „Vice-President IT“ bei Henkel. Er ist einer meiner ehemaligen Studenten und an einem Freitag Nachmittag aus den USA zugeschaltet – schrieb seine Diplomarbeit bei Henkel übrigens zum Thema „Knowledge Management und E-Learning“.
Uraufführung gelungen
Die Online-Lehre funktioniert reibungslos, sie hat das Spektrum beachtlich erweitert. Zudem hilft sie der Umwelt: Der lange Weg, die Staus entfallen ebenso wie das C02, das Studierende und Professorin in die Luft blasen, um in die Hochschule zu kommen.
Meine Entscheidung ist gefallen: 10% meiner Lehre gibt es auch nach Corona online.
Aber eben nur 10%…
Es ist nur eine Digitale Brücke
Wer vor einem Bildschirm Platz nimmt, denkt anders, seine Sicht auf die Welt verändert sich genau so wie seine Werteskala.
Aber: Die körperliche Präsenz des Gegenübers ist unersetzlich für Lernerfahrung.
Digitalisierung ist nur eine Brücke, die man nach überschaubarer Zeit wieder verlässt, um den Fuß in die Realität zu setzen und Erfahrungslernen zu praktizieren.
Das wahre Leben findet vor und hinter der Digitalen Brücke statt.
Edda Pulst widmet sich als Professorin für Digitalisierung leidenschaftlich der Berufsfähigkeit ihrer Studenten. Hier erzählt sie mit großer Offenheit und Humor von dem, was sie antreibt und bewegt. Sie nimmt den Leser mit in ihre Wissenswelt.